1914, 18. 10.

A-Eigenhändig, Diktat

Nr.: 1914\1018gu1

1914, 18. 10. (a)

Erste Gründungsurkunde, in: KASTNER, Ferdinand (Hrsg.), Unter dem Schutze Mariens, Paderborn 1939­, S. 289-293 (299)

II. Die Gründungsurkunde vem 18. Okt. 1914.

I. Text.

Programm: Beschleunigung der Entwicklung unserer Selbstheiligung und dadurch Umgestaltung unseres Kapellchens in ein Wallfahrtskapellchen.

Zunächst begrüße ich Sie seit langer Zeit wieder mit dem schönen Gruße: Nos cum Prole pia benedicat Virgo Maria. Es ist das erste Mal, daß dies Sodalenwort an dieser Stätte erklingt. Möge es weiterklingen, weiterrauschen alle kommenden Zeiten hindurch.

Vater und Mutter und Kinder freuen sich, so sie ein eigenes Heim beziehen können, selbst wenn dieses im Vergleiche zu der verlassenen prächtigen Mietswohnung nur unansehnlich und ärmlich wäre. Der Gedanke: Das Haus gehört uns, wiegt alle anderen Vorteile reichlich auf. Diese reine Familienfreude dürfen auch wir heute genießen. Dieses Kapellchen gehört unserer kleinen Sodalenfamilie, an deren Spitze unsere himmlische Mutter waltet. Es gehört ganz uns, nur uns. Neidlos überlassen wir anderen die schönere Hauskapelle, unsere bisherige Mietswohnung. Wir freuen uns und diese Freude lassen wir uns von niemand nehmen. Nebst der Freude läßt heute aber auch ein Gefühl berechtigten Stolzes unsere Herzen höher schlagen. Denn das Heiligtum, das seit Menschengedenken mehr oder weniger verlassen, öde und leer dastand, ist durch uns, auf unsere Veranlassung hin restauriert und der Muttergottes geschenkt worden. Wenigstens seitdem Pallottiner hier wandeln und handeln, sahen diese Wände keine schönere Ausstattung als heute Dürfen wir wohl in dieser erfreulichen Tatsache eine günstige Vorbedeutung finden für die künftige Entwicklung unserer jungen Kongregation?

O gewiß! Es wäre ein erhabenes Werk, des Fleißes und Schweißes der Edelsten wert, wenn wir Sodalen es fertig brächten, eine glühende Marienliebe und ein ideales, studentisches Tugendstreben in unsere Anstalt hineinzutragen, wie es bisher noch nie dagewesen.

Doch warum drücke ich mich so zaghaft, so zurückhaltend aus? Habe ich das Vertrauen zu Ihnen verloren? Wohl sind nur noch die Trümmer unserer blühenden Kongregation vorhanden. Bald aber wird aus den Ruinen neues Leben sprießen. Dafür bürgt mir Ihre vorjährige treue Mitarbeit und der echte marianische Geist, den Sie sich angeeignet. Wohl mögen während der Ferien unter dem Rauch und Staub des Alltags manche Ideale abgebröckelt sein, wohl mag da mancher Grundsatz, den wir im Laufe des Jahres gefaßt und für unabänderlich hielten, die Probe auf das praktische Leben nicht bestanden haben. Aber eines ist uns geblieben - dessen bin ich sicher: Es ist die Überzeugung, daß ein echter Sodale und wahre standesgemäße sittlich-religiöse Größe voneinander unzertrennbar sind. Und wie am Schlusse vorigen Schuljahres, so beseelt auch heute uns der Wille zum Siege, zur Erreichung unseres Kongregationsideals. Nein, meine lieben Sodalen, ich habe nicht das Vertrauen zu Ihnen verloren. Ich weiß, daß wir, aufbauend auf das bisher Erreichte, in diesem Jahre große Fortschritte machen werden, so wie wir es uns im vorigen Jahre vorgenommen.

Diese langsame Entwicklung unserer Berufsgnade und der dadurch herbeigeführte höhere Grad des religiösen apostolischen Geistes ist aber auch nicht das, was ich Ihnen zum Ziele setzen möchte. Meine Forderung geht ungleich höher. Jeder von uns muß den denkbar höchsten Grad standesgemäßer Vollkommenheit und Heiligkeit erreichen. Nicht schlechthin das Große und Größere, sondern geradezu das Größte soll Gegenstand unseres gesteigerten Strebens sein. Sie werden verstehen, daß ich eine solche außergewöhnliche Forderung nur in Form eines bescheidenen Wunsches vorzutragen wage.

Wenn Sie aber den Urheber dieses Wunsches wissen wollen, dann darf ich Ihnen wohl eine stille Lieblingsidee kundtun.

Als Petrus die Herrlichkeit Gottes auf Tabor gesehen, rief er entzückt aus: Hier ist wohl sein. Lasset uns hier drei Hütten bauen. Dieses Wort kommt mir wieder und wieder in den Sinn. Und des öfteren schon habe ich mich gefragt: Wäre es nun nicht möglich, daß unser Kongregationskapellchen zugleich unser Tabor würde, auf dem sich die Herrlichkeit Mariens offenbarte. Eine größere apostolische Tat könnten wir ohne Zweifel nicht vollbringen, ein kostbareres Erbe unseren Nachfolgern nicht zurücklassen, als wenn wir unsere Herrin und Gebieterin bewegen, hier in besonderer Weise ihren Thron aufzuschlagen, ihre Schätze auszuteilen und Wunder der Gnade zu wirken. Sie ahnen, worauf ich hinziele: Ich möchte diesen Ort gerne zu einem Wallfahrts-, zu einem Gnadenort machen für unser Haus und für die ganze deutsche Provinz, vielleicht noch darüber hinaus. Alle, die hierherkommen, um zu beten, sollen die Herrlichkeit Mariens erfahren und bekennen: Hier ist wohl sein. Hier wollen wir Hütten bauen, hier unser Lieblingsplätzchen. Ein kühner Gedanke, fast zu kühn für die Öffentlichkeit, aber nicht zu kühn für Sie. Wie oft war in der Weltgeschichte das Kleine und Unansehnliche die Quelle des Großen und Größten. Warum sollte das bei uns nicht auch der Fall sein können? Wer die Vergangenheit unserer Kongregation kennt, dem wird es nicht schwer, zu glauben, daß die göttliche Vorsehung mit ihr noch etwas besonderes vorhat1.

Während ich dies ausspreche, meine lieben Sodalen, fühle ich, daß ich den rechten Ton getroffen. Ihre Herzen haben Feuer gefangen. Sie haben meinen Plan zu dem Ihrigen gemacht. Getrost lege ich ihn und seine Ausführung in Ihre Hand und trage keine Bedenken, ihn in unsere Chronik einzutragen. Spätere Generationen mögen dann über uns zu Gerichte sitzen. Ob wir unser Ziel erreichen? Soweit es auf uns ankommt - und das spreche ich jetzt nicht mehr schwankend und zweifelnd, sondern mit voller Zuversicht aus -, wir alle, meine lieben Sodalen, werden es an nichts fehlen lassen. Wie für unsern zweiten Patron, den hl. Aloysius, eine Muttergotteskapelle in Florenz, so soll für uns diese Kongregationskapelle die Wiege der Heiligkeit werden. Und diese Heiligkeit wird unserer himmlischen Mutter sanfte Gewalt antun und sie zu uns herniederziehen.

Es war vor mehr als fünf Jahrhunderten. In blutigem Kriege zerfleischten sich Engländer und Franzosen. Schon steht Frankreich auf dem Punkte, gänzlich vernichtet zu werden. Zur selben Zeit ringt ein einfaches französisches Dorfmädchen in eifrigem Gebete zur Gottesmutter um Rettung ihres Königs. Plötzlich erscheint ihr der Erzengel Michael und spricht zu ihr: "Diejenige, die der große Gott als seine Mutter anerkennt, hat mir befohlen, zu dir zu kommen und dir anzukündigen, daß du das Schwert ergreifen, deinen Leib in Eisen hüllen und die Sache der Gerechtigkeit verteidigen sollst. Du wirst die Stadt Orleans von den Feinden befreien und den König nach Reims zur Krönung führen. In der Katharinenkirche zu Fierbois liegt hinter dem Altare ein Schwert begraben: das lasse erheben und umgürte dich damit."

Das Mädchen hieß Johanna d'Arc, in der Geschichte bekannt unter dem Namen Jungfrau von Orleans. Pius X. hat sie im Mai 1909 selig gesprochen. Es ist mir, als ob Unsere Liebe Frau in diesem Augenblicke hier im alten Michaelskapellchen durch den Mund des heiligen Erzengels zu uns spräche:

Macht euch keine Sorge um die Erfüllung eures Wunsches. Ego diligentes me diligo. Ich liebe die, die mich lieben. Beweist mir erst, daß ihr mich wirklich liebt, daß es euch ernst ist mit euerm Vorsatze. Jetzt habt ihr dazu die beste Gelegenheit2. Nach dem Plane der göttlichen Vorsehung soll der große europäische Krieg für euch ein außerordentlich förderndes Hilfsmittel sein für das Werk eurer Selbstheiligung. Diese Heiligung verlange ich von euch. Sie ist der Panzer, den ihr anlegen, das Schwert, mit dem ihr euer Vaterland von seinen übermächtigen Feinden befreien und an die Spitze der alten Welt stellen sollt.

Sehen Sie da, meine lieben Sodalen, die tiefgreifende Bedeutung des gegenwärtigen Krieges für die Zukunft unserer Kongregation und unserer Kapelle. Alles hängt ab von unserer standesgemäßen Vollkommenheit. Für diese aber ist der Krieg

1. ein außergewöhnliches Förderungsmittel,

2. ein durchaus würdiger Gegenstand der Betätigung.

Diese beiden zeitgemäßen Gedanken wollen wir nun etwas näher erwägen.

I. "Der Ernst der Zeit", so las ich jüngst in einem Tagesblatt (Köln. V. 1914/883), "ist eisern, wie das Schwert in den Händen unserer Krieger ernst ist." Darum heißt es jetzt, diese große Stunde, für die wir Gott danken müssen, auszunutzen ... Gelingt es nun, den ungeheuren religiösen Gewinn aus dieser Notzeit zu ziehen, den sie bringen könnte, so wird sie eine wahre Gnaden- und Gotteszeit werden. Lassen wir aber diesen großen und geradezu entscheidenden Augenblick unbenutzt vorübergehen, so wird kein anderer, ebenso günstiger in absehbaren Jahren wiederkehren...

Und wie ernst man draußen mit dieser Wahrheit rechnet, beweist die Tatsache, daß in manchen Städten das Bonner Komitee für Vorträge (und andere Kreise) sich anschicken, in diesem Sinne öffentliche Abende zu veranstalten für innere Erneuerung des Volkes.

Es muß also wohl etwas Wahres an meiner ersten Behauptung sein. Das wird noch unzweifelhafter, wenn ich ihr eine andere, verständlichere Fassung gebe. Der Krieg ist eine gewaltige Volksmission oder - auf uns angewandt - ein überaus eindringlicher Exerzitienkursus. Der Erfolg dieser Exerzitien muß um so größer sein, als der Exerzitienmeister der unendliche Gott selbst ist, der beste Kenner des Menschenherzens. Die Form, in der er zu uns spricht, ist nicht das Wort, sondern eine grandiose Tat, eine ungemein packende dramatische Handlung, bei der wir alle irgerideine Rolle mitzuspielen haben. - Der Krieg läßt die Kraft erscheinen, alles erhebt er zum Ungemeinen.

Akt um Akt, Szene um Szene spielt sich vor unseren zitternden Augen auf der großen europäischen Weltenbühne ab. Und je weiter die Handlung fortschreitet, desto unwiderstehlicher stürmen die großen Exerzitienwahrheiten auf uns ein: das Grundverhältnis des Menschen zu Gott, die Lösung dieses Verhältnisses durch die Sünde und die Wiederherstellung durch engen Anschluß an Christus.

Der Mensch ist seinem innersten Wesen nach total abhängig von Gott. Je mehr und erfolgreicher aber die moderne Menschheit an dem Turme ihrer Kultur arbeitete, desto selbstherrlicher gebärdete sie sich. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo der Allgewaltige zornsprühend vom Himmel steigt, um selbst seine Hoheitsrechte zu wahren. In furchtbarer Majestät zeigt er sich den zitternden und bebenden Völkern. Aus dem Donnern und Blitzen der Kanonen, aus der Erschütterung der Erde klingt seine Stimme wie ehemals auf Sinai aus dem Getöse empörter Naturgewalten: Ich bin der Herr, dein Gott! Du sollst keine fremden Götter neben mir haben.

Und wie vom Blitze getroffen, knickt plötzlich die stolze Selbstherrlichkeit des modernen Menschen zusammen. Im Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit stöhnt er gleich dem sterbenden Riesenschiff Titanic zum ewigen Schlachtenlenker empor: Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir. Das soll die Losung sein, das mein Panier.

Mit ehernem Griffel hat die quälende Sorge sich in Antlitz und Herzen der Adamskinder eingeschrieben. Selbst das Leben ist furchtbar billig geworden, billig wie die Sperlinge, von denen man zwei um einen Pfennig kauft. Nein, nein: das Leben ist der Güter höchstes nicht. Von den Werken menschlicher Hände gar nicht zu reden. Heute bestehen, morgen vergehen sie. Vanitas vanitatum! et omnia vanitas.

Wie nie zuvor tritt nun die Neuzeit mit gebogenem Knie und gefalteten Händen vor ihren verkannten Gott hin und schlägt demütig an die Brust: Vater, ich rufe dich! In deine Hände befehle ich mein Leben! Vater, du segne mich, wenn mich die Donner des Todes begrüßen!

Ein Bild, würdig des Pinsels eines Raffael; eine Szene, so plastisch und drastisch, wie wir sie unser ganzes Leben noch nicht gesehen. Lassen wir die ganze Szenerie auf unser Herz und Gemüt wirken. Stellen wir hinein, fügen wir hinzu all die kleinen Erfahrungen, die wir selbst gemacht.

Vielleicht hat sich uns selbst das Herz krampfhaft zusammengepreßt in der Sorge um ein teures Leben oder um das tägliche Brot oder um unsere eigene Zukunft. Vielleicht können wir zurückblicken auf unvergeßliche Augenblicke, in denen unsere Mitmenschen ihre rührende Abhängigkeit gen Gott an den Tag legten. Wie ein Wirbelwind wirkte die Mobilmachung auf dem Lande. Alles drängte hin zum Beichtstuhle und zur Kommunionbank. Und wo die Zeit nicht ausreichte, da mußte der Pfarrer wenigstens noch seinen priesterlichen Segen spenden. Harte, verstockte Männerherzen wurden wie Wachs. Wahrlich, da war das Beichthören leicht, leichter als bei irgendeiner Volksmission. Männer, die Jahrelang von Kirche und Gott nichts mehr wissen wollten, gingen in sich.

Da wird in einem Luftkurort an der Sieg (Eitorf) ein vornehmer Herr zu den Waffen gerufen. Als sein Kind zur ersten heiligen Kommunion ging, begnügte er sich damit, es vor der Kirche abzuholen, hineingehen wollte er nicht. Jetzt ruft er dem ihn begleitenden Volke zu: "Betet für mich, daß die Kugel mich nicht trifft."

Ein Unteroffizier erzählte mir kürzlich: Wenn man da mitten im Kugelregen steht, rechts und links fällt ein Kamerad nach dem anderen, und wenn man dann nach der Schlacht seine Bekannten sucht und so und so viele nicht mehr findet, da stehen einem die Tränen näher als etwas anderes. Da lernt man wieder beten! Und gerade solche, die als Zivilisten am wenigsten von unserem Herrgott wissen wollten, klammern sich jetzt am meisten an ihn.

Und die Zurückgebliebenen: Wir alle sind Zeugen gewesen, wie die Kirchen an Werktagen mehr besucht wurden von den Männern als sonst am Sonntag.

Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir, das soll die Losung sein, das mein Panier.

Der Vorhang fällt. Die erste Szene ist zu Ende.

Doch wenden wir unser Auge einer anderen Szene zu. Wie in der ersten, so ist auch hier wiederum die Hauptperson Gott.

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Lange hat der Allmächtige und Allheilige geschwiegen zu den Sünden der Völker und Fürsten. Nun aber ist das Maß der Geduld voll. Von den Völkern, die sich jetzt befehden, werden einige Hammer, andere Amboß sein. Wir werden schlagen oder geschlagen werden - aber der Meister, der jetzt in der Werkstätte Europas steht und die Völker schmiedet, ist Gott, der Gesetzgeber und Rächer der sittlichen Weltordnung. Ohne Sünde gäbe es keinen Krieg. Das gilt ganz allgemein, läßt sich besonders unzweifelhaft vom jetzigen Völkermorden nachweisen. Qualis effectus, talis causa. Wie die Wirkung, so die Ursache. Aus der Wirkung läßt sich ein vollberechtigter Rückschluß auf die bewirkende Ursache machen. Das ist ja auch der Gedankengang, der den Exerzitienbetrachtungen über die Bosheit und Verwerflichkeit der Sünde zugrunde liegt. Wenn uns da die Sünde abstrakt dargestellt würde als eine unendliche Beleidigung des unendlichen Gottes, dann brachten wir ihr bei unserer sinnlichen Natur nicht das rechte Verständnis entgegen. Um uns das zu vermitteln, wird das unsagliche Elend geschildert, das der Krieg über die Nationen bringt, und dann gesagt: "Seht, welch ein verabscheuungswürdiges Übel die Sünde sein muß, die solche schrecklichen Folgen nach sich zieht."

Gerade so macht es heute der liebe Gott mit uns - aber in unnachahmlich wirksamer Weise.

Wir werden doch nicht, so einfältig sein, daß wir das, was wir hier im Hause sehen, als eigentliches Kriegselend betrachten3. Hier sind ja nur die Rekonvaleszenten. Um einen tieferen Einblick zu gewinnen, müssen wir näher an die Grenze oder aufs Schlachtfeld gehen, wir müssen hinausziehen in die Familien und dem Volke tief in die Seele hineinschauen.

O könnte ich Ihnen doch in rechter Weise schildern all den Trennungsschmerz unserer Frauen und Mütter, von ihrem verzweifelten Leid bei eintreffender Nachricht von schwerer Verwundung. Da kommt eine Mutter ihren verwundeten Sohn besuchen! Der Junge weint. Ei, so tröstet die Mutter, sei doch zufrieden, daß du so gut weggekommen bist. Sie sah nur eine kleine Verwundung am Gesicht. Der Junge weint heftiger, schlägt die Decken zurück: Beide Beine sind ihm abgenommen. - Die Mutter hat den Verstand verloren. - Könnte ich die Ströme Blutes, die die Schlachtfelder düngen, und das Meer von Tränen, das geweint worden, hierherleiten, könnte ich all die ermordeten Helden, die in der Blüte der Jahre standen, könnte ich alle zerschossenen Knochen, die abgeschlagenen Körper und Gliedmassen hier zusammentürmen, könnte ich - doch nein, ich kann das Bild nicht ausmalen. Ihre Phantasie ist noch jugendfrisch und lebhaft. Lassen Sie ihr freien Spielraum. Tragen Sie alles zusammen, was sich Schreckliches ersinnen läßt, und schreiben darüber: Das ist die Sünde.

Ja, meine lieben Sodalen! Das ist auch meine Sünde, die wie ein roter Faden mein Leben durchzieht. Tantillus puer - tantus peccator! Das sind die Sünden meiner Eltern und Ahnen! Herr Gott! Es tut mir leid, daß ich gefehlt habe. Nie, nie mehr soll es wiedergeschehen!

Das ist die Sünde, der wir als Priester den Krieg erklärt haben bis aufs Messer, in deren Vernichtung und Sühnung unsere Lebensaufgabe besteht. O mein Gott! Ich danke dir für diesen herrlichen Beruf. Meine ganze Kraft will ich einsetzen, um ein würdiges Werkzeug in deiner Hand zu werden.

Hier wollen wir einen Augenblick innehalten und hören, was die Stimme Gottes von uns verlangt. Hodie si vocem ejus audieritis, nolite obdurare.

Loquere, Domine, loquere quia audit servus tuus. Herr Gott, lehre mich dich erkennen, lehre mich mich erkennen, sprach ein großer Mann und wurde ein Heiliger. Herr Gott, lehre mich dich, lehre mich mich erkennen! Dieselbe Erkenntnis wird auch unser Streben nach Heiligkeit wunderbar befruchten.

II. Doch damit sind die Vorteile, die der Krieg nach dem Plane der göttlichen Vorsehung für uns hat, noch lange nicht erschöpft.

Es lebt ein Drang in uns, ein Trieb, der in diesen Zeiten gebieterisch Befriedigung heischt: die Vaterlandsliebe. Wir wollen etwas beitragen zum Wohle unseres bedrängten Vaterlandes.

Mit Begeisterung nehmen wir die eintreffenden Kriegsnachrichten auf. Wir beneiden diejenigen, die ins Feld hinausziehen und ihr Blut für den Heimatboden verspritzen dürfen. So ists recht; die Vaterlandsliebe ist eine erhabene Tugend und der Tod fürs Vaterland nach dem Martyrium der glorreichste und verdienstlichste.

Heilige Flamme, glüh!

Glüh und verlösche nie

Fürs Vaterland!

Je flammender aber unser Patriotismus, desto größer ist auch unser Verlangen, tatkräftig einzugreifen in die Gestaltung der Dinge!

So kindlich, so naiv werden wir doch nicht mehr sein, daß wir es beim Hurrahschreien und einigen begeisterten Phrasen oder träumerischen Luftschlössern bewenden lassen. Allerdings kann ich mich nicht der Erkenntnis verschließen, daß in dieser Beziehung das Zusammenleben manche Gefahren in sich schließt. Oder sagen Sie selbst: War Ihre ganze Auffassung, Ihr ganzes Auftreten während der Ferien nicht gesetzter, ernster, männlicher? Wo ist aber jetzt diese Männlichkeit? Oder ist es ein Zeichen von Männlichkeit und Zeit- und Weltverständnis, wenn wir den Krieg benutzen, um uns über unsere täglichen Pflichten hinwegzusetzen und auch andere dazu verleiten mit der beschwichtigenden Wendung: Es ist halt Krieg! Wie man aber auf diese Weise dem Vaterlande einen Dienst erweist - und das wollen wir doch -, ist durchaus nicht ersichtlich. Am allerwenigsten schickt sich so etwas für einen Sodalen, der immer nur nach den Grundsätzen der vom Glauben erleuchteten Vernunft handelt. Nicht viel mehr dienen wir der guten Sache, wenn wir unserm Spielen und Turnen einen kriegerischen Anstrich zu geben versuchen. Nicht als ob das verwerflich wäre, beileibe nicht. Im Gegenteil! Es freut mich immer, wenn ich vor meinem Zimmer die Turnstange knarren höre. Es tut mir dann nur leid, daß ich selbst nicht mitmachen kann. Was ich sagen will, ist nur dieses: Es ist doch unermeßlich kleinlich, anzunehmen, daß der gewaltige Krieg im Plane der göttlichen Vorsehung nur diesen einen Zweck für uns habe.

So niedrig denke ich nicht von Ihnen. Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, daß jeder von uns mitkämpfen und mitsiegen und mitraten kann im obersten Kriegsrat und mitbauen an der Weltgeschichte. Wir sind keine überflüssigen Nummern, zu träger Untätigkeit verurteilt, sondern wesentliche Faktoren, auf die vieles ankommt. Die Waffe, das Schwert, das, womit wir dem Vaterlande zum Siege verhelfen, ist ernste, strenge Buße, Selbstzucht, Selbstüberwindung: Selbstheiligung.

Wenn wir diese mit Hochdruck betreiben, stellen wir ein neues Gardekorps ins Feld, dessen Reserven die Legionen des Himmels bilden.

Wir heften nicht nur den Sieg an unsere Fahnen, sondern sorgen - und das ist ebenso wichtig - auch für die möglichst gute Ausnutzung des Sieges.

Der Beweis dieser Doppelthese ist schnell erbracht.

Gott ist der oberste Schlachtenlenker. Er hält in seiner Hand den Sieg oder Verderben verschlossen. Es kommt also darauf an, den rex regum, den dominus dominantium uns günstig zu stimmen.

Und das beste Mittel zu diesem Zwecke ist nicht die Güte, Vortrefflichkeit, Überlegenheit unserer Kanonen - das muß auch sein - auch nicht die Übermacht an Soldaten - dem Herrn, heißt es in der Heiligen Schrift, fällt es nicht schwer, Heil zu schaffen, sei es mit vielen, sei es mit wenigen (1 Sm 14,6). Wäre es anders, wären wir Rußland gegenüber arm dran. Nein, das beste Mittel gibt uns der Prophet Samuel in einer Proklamation an, die er in Kriegsnot an das Volk erließ:

"Wenn ihr die fremden Götter fortschafft aus eurer Mitte, wird der Herr euch aus der Hand eurer Feinde erretten" (1 Sm 7,3).

Alles an uns und in uns, was nicht Gott gehört, alle gottwidrigen Neigungen und Leidenschaften, Stolz, Sinnlichkeit, Habsucht, Kritisiersucht ... das sind unsere fremden Götter.

Und wenn der genauere Beweis erwünscht: Sodoma und Gomorrha. -

Heilige Flamme glüh, glüh und - -

Benützen wir das Schwert. Schlagen wir als wahre Ritter ohne Furcht und Tadel auf uns los, daß die Funken sprühen.

Es ist halt Krieg - wenn dann Schwierigkeiten -

Wohl ist das stille Arbeit, die nicht in Zeitungen gefeiert - obwohl sich selbst - wohl haben wir dann keine Aussicht auf das eiserne Kreuz. Doch, was sage ich! Das Kreuz! Doch gewiß, das Kreuz wird uns anvertraut!

Mit Riesenschritten eine neue Zeit: Tod: Pius X., Tod: P. Wernz, Kardinalstaatssekretär4.

Wer kennt die neuen Probleme, die erwachsen: Heiden kämpfen mit uns!

Wie sich auch alles gestaltet: Wir müssen das Kreuz aufpflanzen auf die neuen Verhältnisse.


  1. In dem ersten Druck (MTA IV, 60) ist abgeändert: ... daß wir das letzte Glied in der Entwicklung noch nicht erreicht haben. - Diese Abänderung ist recht aufschlußreich; sie zeigt, wie schlicht und gesund der Vorsehungsglaube Schönstatts damals und später war. Vgl. dazu auch die kurze Analyse bei Kastner, Der Werktagsheilige in der Schule des Vorsehungsglaubens. S. 141f.

  2. Das Manuskript wurde später (vgl. die Änderung "europäische Krieg' in "Weltkrieg") ergänzt: (Und) glaubt nicht, daß es in der heutigen ernsten und großen Zeit etwas Außergewöhnliches ist, wenn Ihr die Anforderungen an Euch aufs höchste steigert. Nach dem Plane der göttlichen Vorsehung soll der Weltkrieg mit seinen mächtigen Impulsen für Euch ein außerordentlich förderndes Hilfsmittel sein für das Werk Euerer Selbstheiligung. Diese Heiligung verlange ich von Euch. Sie ist der Panzer, den Ihr anlegen, das Schwert, mit dem Ihr das Reich Gottes von seinen übermächtigen Feinden befreien sollt. Erwerbt Euch nur durch treue und treueste Pflichterfüllung recht viele Verdienste und stellt sie mir zur Verfügung. Dann werde ich mich gerne hier niederlassen und reichlich Gaben und Gnaden austeilen ...

    MTA IV, 60 f. (vom 15. Juni 1919) hat diese Version: Und glaubt nicht, daß es in der heutigen ernsten und großen Zeit etwas Außergewöhnliches ist, wenn Ihr die Anforderungen an Euch höher als frühere Generationen, ja aufs höchste steigert. Nach dem Plan der göttlichen Vorsehung soll der Weltkrieg mit seinen mächtigen Impulsen für Euch ein außerordentliches Hilfsmittel sein für das Werk Eurer Selbstheiligung. Diese Selbstheiligung verlange ich von Euch. Sie ist der Panzer, den Ihr anlegen, das Schwert, mit dem Ihr für Eure Wünsche kämpfen sollt. Bringt mir fleißig Beiträge zum Gnadenkapital: Erwerbt Euch nur durch treue und treueste Pflichterfüllung und eifriges Gebetsleben recht viele Verdienste und stellt sie mir zur Verfügung. Dann werde ich mich gerne unter Euch niederlassen und reichlich Gaben und Gnaden austeilen, dann will ich künftig von hier aus die jugendlichen Herzen an mich ziehen, sie erziehen zu brauchbaren Werkzeugen in meiner Hand...

  3. Seit Kriegsausbruch war das neue Studienheim in ein Lazarett umgewandelt worden.

  4. P. Wernz S. J., General der Gesellschaft Jesu, starb Juni 1914. - Kardinalstaatssekretär wurde unter Benedikt XV. Dom. Ferrata, der am 10. Okt. 1914 schon starb. Ihm folgte Gasparri.